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„Das große Erdelmeiergefühl“
von Professor Peter Weiermair

Trotz der erstaunlichen medialen Veränderungen der bildenden Künste und ihrer Entgrenzung bis hin zu bislang anderen Künsten vorbehaltenen Mitteln, der Musik und der Sprache, dem Tanz oder dem Theater; ein Medium hat sich über all diesem Wechsel behauptet, ja es scheint heute wiederum an Aktualität zu gewinnen, wie anthologisch ausgerichtete Ausstellungen und internationale Publikationen unter Beweis stellen, die Zeichnung. Selbst während der Periode extremer Entmaterialisation konzeptueller Strategien blieb die Zeichnung als Notat von Vorstellungen im Kopf bestehen und hat den Zusammenhang von Zeichnen und Schreiben bestätigt. Daher kann die Zeichnung für viele Künstler eines von mehreren Medien darstellen. Ausschließliche Zeichner sind in der Minderzahl. Für Erdelmeier, der so etwas wie ein Vollblutzeichner und Virtuose der Linie ist, gilt letzteres. Auch dort, wo er den Pinsel einsetzt, bleibt er jemand, der der Linie vertraut. Erdelmeier bedient sich aller zeichnerischen Sprachen, die er in sein Sprachvermögen integriert. Den Graffitis des öffentlichen Raumes, den Karikaturen, den Mangas der Japaner, wie den Science-Fiction-Comic, zeichnerisch gefaßten Gebrauchsanweisungen, wie politischen Plakaten. Wie ein Musiker mischt er Themen und Stile und verfügt, all diese Erfahrungen zu einem unverwechselbaren Erzählstil verschmelzend, sowohl über das intimste Pianissimo wie die rauschhafte Oper. Zu seinen nicht selten wandgroßen Zeichnungen verbindet er Agitprop mit der Schimpffluchphilosophie Polkes, kombiniert biomorphe Transformationen seiner lustvoll kopulierenden Körper und ihrer surrealen polymorphen Sexualästhetik a lá Bellmer mit dem rauhen Ton der Witzzeichnungen Peter Sauls oder von Zeitungen, Werbetexten und Gebrauchsanweisungen gehen über in Punch und Judy, utopisch geformte Sternenwesen tauchen aus Galaxien auf, graffitiartige Großzeichnungen werden elegant aufgelöst und ihre impulsiven, energiegeladenen Linien landen in einem Nestknäuel einer ganz anderen Geschichte. Erdelmeier verleitet den Betrachter zu einem Seh- und Leserausch, den ich für mich „das große Erdelmeiergefühl“ getauft habe, denn es ist der Inbegriff des Atems dieses Erzählers, die Energie der Linie, die sich einem mitteilt und von dem wir nicht genug bekommen können, da alle Zeichnungen nur Teil einer unendlichen Geschichte sind. Diese Zeichnungen erzählen, schreien, flüstern, schimpfen, stöhnen, ja sie können auch schweigen, wenn die Linie endet und sich nicht in einer neuen Geschichte, einer weiteren zeichnerischen Pointe wiederfindet.
Es ist der Monolog eines Erzählers, den diese Linie repräsentiert, eines Erzählers, der das was ihm der Tag zuträgt, verarbeitet und ausspuckt.
Erdelmeiers Atelier, er hat auf Zeit den abbruchreifen Vorratsraum eines ehemaligen Polizeihauptquartieres in Frankfurt besetzt und bezogen, ist idealer Rahmen dieser Berge von Zeichnungen, eines Geschichtenerzählers von Gnaden jedoch keines Illustrators, eines großen Könners der Linie, welche er wie ein Magier, ein Virtuose beherrscht. Es ist eine fließende, fliegende Linie, die den Faden einer Geschichte aufnimmt, sich zu einer Gegenstandsvorstellung verdichtet, die sich wiederum blitzschnell in etwas anderes verwandeln kann.

The great Erdelmeier Feeling

In spite of the enormous changes in an artist´s media, the stretching of boundries to include music, speech, dance and theatre, one medium has remained relevant throughout (in fact exhibitions and anthologies worldwide testify to its currently increasing importance); that is drawing. Even in the heyday of conceptual art the drawing had its place as a recorder of ideas, emphazising the closeness between drawing and writing. In general drawing is one of several media open to an artist; artists who use it practicaly exclusively are in the minority. One of these is Erdelmeier, a thoroughbred drawer, a virtuoso of line. Even with brush in hand he remains faithful to the line. Erdelmeier takes drawing idioms from all over the world and integrates them into his vocabulary: graffiti from public buildings, caricatures, Japanese mangas, science-fiction comics, innstruction manual drawings, and political posters. He mixes styles and themes like a musician, weaving them into an unmistakeable whole that covers the range from the most intimate pianissimo to the most powerful opera.

His drawings, often covering an entire wall, combine Agitprop and Polke, biomorphic transformation of gratuitously copulating bodies and
the polymorphic sexual asthetic à la Bellmer with the rawness of Peter Saul´s Witzzeichnungen; newspaper, advertisement and handbook drawings with Punch and Judy, utopian stellar beings emerge from galaxies, enormous graffitti dissolve elegantly and their impulsive, energetic lines entangle themselves in a completely new story. Erdelmeier conducts a viewer into a kind of visual ecstasy that I have called „The great Erdelmeier Feeling“; transmitting as it does the very breath of a storyteller, the very energy of these lines, the very core of the stories that we can never get enough of because they are all parts of an overall story that never comes to an end.

These drawings can talk, scream, whisper, scold, gasp, even stay silent when the line just finishes without leading to anything. They represent the monolog of a storyteller who takes everything the day brings, digests it,
and spits it out again. Erdelmeier´s atelier (a former storeroom in the old FfM police headquarters waiting to be demolished)is the perfect backdrop for these mountainous stacks of drawings, drawings of a gifted storyteller, not an illustrator, one of the great, ruling the line like a magician, controling it like a virtuoso, that flowing, flying line, taking up the thread of a story, condensing into an object, then transforming into something else, all in the twinkling of an eye.

Translation: Anna Gelderman